Liebe Frau Blog,
zum 90. Geburtstag von herman de vries durfte ich eine Ausstellung mit ihm gemeinsam konzipieren. Es war nicht nur eine Ehre, sondern eine große Freude! Wir konnten zudem einen Katalog als Edition veröffentlichen, in dem neben drei Originalen von herman einige Texte aufgenommen wurden. Aus bildrechtlichen Gründen kann ich Ihnen die Abbildungen hier nicht präsentieren, aber den Katalog gibt es ja immer noch zu erwerben: www.sepulkralmuseum.de
Viel Freude beim Lesen!
Ihr Dirk Pörschmann
„Es ist gut,
wenn uns die verrinnende Zeit nicht als etwas erscheint,
das uns verbraucht oder zerstört,
sondern als etwas,
das uns vollendet.“
Antoine de Saint-Exupéry, „Le Petit Prince“, 1943
Etwas vergeht: eine Blume, der Sommer, die Zeit, das Leben. Es ist das aktive Moment des Vergehens, das uns herman de vries in seinen Werken offenbart. Mit jedem Schritt, mit jedem Herzschlag, mit jeder Blüte vergeht das Leben in und um uns. Es wandelt sich darin, verwandelt seine Gestalt doch nie sein Wesen: Leben ist Sterben ist Leben. In einem Gedicht erfasst de vries seine Freude über die Lebendigkeit im Angesicht unserer Vergänglichkeit:
umarmt von der welt
werde ich
sterben
es gibt
kein
entkommen
freue dich
tanze
tanze
Die Welt ist ein Teil von uns und wir von ihr. Im Tanz als Ausdruck der Freude vergehen wir; welch ein tröstliches Bild vom Unausweichlichen. Uns begegnet in diesem Gedicht dieselbe Weisheit wie beim eingangs zitierten Antoine de Saint-Exupéry. Nur wer das Leben annimmt und bewusst in Freude lebt, wird zu solchen Einsichten kommen können.
leben als durch- und übergang
„in transit“ ist eine von herman de vries betitelte Arbeit, die in den Jahren 2012 und 2013 entstand. Bei seinen Wanderungen im Steigerwald sammelte er Tierknochen und Holzstücke, die ihn sinnlich ansprachen. Die bodennahe Installation gleicht einer Spurensicherung. Auf zwei, jemals ein mal zwei Meter großen Flächen sind die Fundstücke –getrennt nach Holz und Knochen – ausgelegt. Der Titel „in transit“ bietet eine mögliche Deutung an: Leben findet stets im Durch- und Übergang statt. Was heute noch Knochen ist, kann irgendwann Holz sein – et vice versa. Alles verwandelt sich. Unsere Körper leben unweigerlich im Einklang mit allem, was uns umgibt, was Welt ist. Eine Trennung ist nur auf einer rationalen Ebene möglich: „one in all – all in one“ lautet das Motto, das herman de vries immer wieder neu in seinen Arbeiten interpretiert. So etwa in einem beeindruckenden Stapel aus acht Kubikmeter Totholz, das unter Auflagen aus dem Steigerwald nach Kassel gebracht wurde. Holz von abgestorbenen Bäumen bietet sich als Wohnstätte für mannigfaches Leben an. Das Tote birgt stets das Lebendige. Ein großer Haufen besteht aus vielen Teilen, und es ist der Mensch, der die Welt in seinem kategorisierenden Denken aufteilt, um sie mit Sprache beschreiben zu können. Das Staunen kennt keine Sprache und somit kein Teilen, und in der Ermöglichung von Staunen sind Natur und Kunst verwandt.
chance and change
Im Schaffen von herman de vries stehen Zufall, Wandel und die permanente Veränderung allen Seins im Zentrum. Seit 1953 experimentiert er mit Collagen, Zeichnungen, Assemblagen, mit Installationen, Gedichten und im Lauf der Jahrzehnte immer stärker mit natürlichen Materialien, deren Vergänglichkeit er vielfältig thematisiert. Zufall und Möglichkeiten sowie Wandel und Veränderung sieht herman de vries als Rahmensetzungen des Lebens, aus denen niemand heraustreten kann. Auch hier findet sich die Vorstellung, dass alles in Bewegung, alles im Fluss ist. Wir wandeln durch Zeiten und Räume und werden darin verwandelt. In der Assemblage „transit/ vergänglichkeitswerke II“ hat de vries ein Experiment angeordnet, das Wandel und Übergang sichtbar macht. Er hat im Jahr 1980 fünf gleiche Ausgaben des Haßfurter Tagblatt in den Garten gelegt, um zu erfahren, wie sich diese nach einem, nach zwei, drei, vier und fünf Monaten verändern. Für die Assemblage hat er die unterschiedlich verwitterten Zeitungen mit einem druckfrischen Exemplar zusammengeführt: So wird Zeit auf künstlerische Weise durch Zeitungen sichtbar.
memento
In Erinnerung an die verlorenen kaledonischen Wälder Schottlands hat herman de vries die Arbeit „in memory of the scottish forests“ (1991–1998) geschaffen. Mit Holzkohle schrieb er all die Namen der gerodeten Wälder auf, die auf Landkarten noch präsent sind, aber meist schon vor Jahrhunderten in Weideland umgewandelt wurden. Aus dem Holz wurde Holzkohle. Teilweise hat man die Wälder in den vergangenen Jahren wieder aufgeforstet, doch die ursprünglichen Regenwälder gibt es nicht mehr. Jedem Gedenken geht ein Verlust voraus. Verlust ist eine existenzielle Grunderfahrung, die jeder Mensch von Kindesbeinen an mannigfach erleben muss. In Schottland ging wie in vielen Ländern eine gewachsene, ursprüngliche Landschaft durch Menschenhand verloren. Wie sah es auf der Erde aus, bevor der Mensch sie eroberte? Es wohnt eine Sehnsucht in uns, diese verlorene Welt erleben zu dürfen – eine per se niemals zu stillende Sehnsucht, eine dauerhafte Wunde des Verlusts der Ursprünglichkeit.
das zelebrieren der leichtigkeit
„from the shore of loch dùghaill” ist eine Assemblage aus dem Jahr 1986. Sie offenbart eine wunderbare Tugend im künstlerischen Schaffen von herman de vries: die Mühelosigkeit. herman de vries sammelte in den schottischen Highlands, am Süßwassersee Loch Dùghaill, sieben Stück Treibholz, die ihn ästhetisch ansprachen. Er präsentiert sie uns – nicht mehr und nicht weniger. Vieles was ihm auf Spaziergängen in der Natur begegnet, verwandelt er allein durch seine Auswahl. Ihr geht stets eine wache Wahrnehmung voraus: die Grundbedingung allen künstlerischen Schaffens. In der Natur sind wir von Anmut umgeben. Diese mit allen fünf Sinnen und dem Bewusstsein als sechstem Sinn wahrnehmen zu können, ist erfüllend, und die Freude darüber vermittelt uns herman de vries in seinen Werken: Im Raum der Kultur wird die einfache Schönheit des Natürlichen mit Leichtigkeit gefeiert.
ambulo ergo sum
„ich gehe, also bin ich“ ist ein Lebensmotto von herman de vries, dem er seit vielen Jahrzehnten im Steigerwald und auf Reisen folgt. Nach dem französischen Mathematiker und Philosophen René Descartes (1596–1650) teilt sich Menschsein in Körper und Geist auf, wobei dem Geist die Herrschaft eingeräumt worden ist: „cogito ergo sum“ („ich denke, also bin ich“) war der Leitsatz, der im cartesianischen System Neuzeit und Moderne geprägt hat. Noch heute wirkt er, ohne dass er durch unsere sinnliche Wahrnehmung nachvollziehbar wäre. Die kategorisierende Trennung mochten Philosophen für rationalistische Gedankengebäude gut verwenden, doch wer hätte je an sich erfahren, wo genau die Grenze zwischen Geist und Körper verläuft? Was bewegt ein Kind, das Laufen will, sich in Bewegung zu setzen? Der Geist oder der Körper? Diese Frage ist nicht zu beantworten, und es erscheint somit müßig, sie zu stellen. Ich in meiner Ganzheit gehe und vergehe dabei. Mein Gehen ist ein aktiver Seinszustand, denn ich bin dadurch in Bewegung. Mit jedem Schritt nimmt mein Leben seinen Lauf, und im Lebenslauf kann gelesen werden, an welche Orte mich die Füße in der Vergangenheit getragen haben. Mein Gang führt mich unweigerlich zu einer Vergangenheit, die ‚hinter‘ mir liegt und deren Spuren ich in mir trage. Ich sollte sie nicht aus dem Blick verlieren, um zu wissen oder wenigstens zu erahnen, woher ich komme. Rückblicke in die Vergangenheit offenbaren mir meine Vergänglichkeit, und mein Gang wird mich unweigerlich zu meinem eigenen Leichenbegängnis führen, an dem ich nicht mehr aktiv werde teilnehmen können. „Ich gehe“ bedeutet immer auch, „ich verlasse“. Doch nicht nur der letzte Gang, sondern jeder Weg, den wir zurücklegen, bedeutet Ortswechsel und aktives Verlassen. Die Geburt, die erste kleine Bewegung weg von der Mutter, die ersten Schritte in die Welt, denen viele folgen und die unumkehrbar sind. Ein Gehen ohne Vergehen ist unmöglich. Bleibt der Mensch stehen, verharrt er, hält er fest und verweigert sich inneren und äußeren Bewegungen, geht das Leben dahin, zieht es an ihm vorbei. Allein in Bewegung und somit im Einklang mit den lebendigen Kräften erfüllt sich der Sinn des Lebens ohne Mühe: Er findet sich in sich selbst.
Dirk Pörschmann, „herman de vries – vergehen“, in: Kat. Ausst. herman de vries – vergehen, Museum für Sepulkralkultur, Kassel, 2021.